Die Idee
Warum ein Kongress der Utopien? Gedanken und Hintergründe zum Konzept
„Wir stehen am Anfang eines Jahrhunderts des anthropogenen Klimawandels, und alle Menschen werden für den Rest ihres Lebens mit dieser überwältigenden existenziellen Krise konfrontiert sein. Vieles wird sich in den kommenden Jahrzehnten ändern. Sowohl die Gefahren als auch die Chancen sind enorm. Wir befinden uns jetzt in einem Wettlauf zwischen Katastrophe und Utopie. In dieser, in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesenen Situation ist es von entscheidender Bedeutung, Geschichten darüber zu erzählen, was passieren könnte, um die kognitiven Karten zu erstellen, die für die Navigation in den kommenden komplizierten Jahrzehnten notwendig sind. Die Klimafiktion ist heute der beste Realismus unserer Zeit, und die Science Fiction ist ein mächtiges Werkzeug des menschlichen Denkens. Je mehr positive Geschichten wir über die kommenden Jahre erzählen, desto besser können wir sie uns vorstellen und sie planen.“
Kim Stanley Robinson
Das Zitat des Science-Fiction-Autors Kim Stanley Robinson zum Realismus von Klimafiktionen ist nicht nur ein Bekenntnis zur Wirkmächtigkeit des literarischen Denkens und Arbeitens. Es ist in Zeiten der multiplen Krisen vor allem auch übertragbar. Welche Rolle spielt utopisches Denken für die gesellschaftliche Entwicklung, welche Rolle kann und sollte Fiktion einnehmen – in der Frage der Klimakrise ebenso wie etwa im Bereich von Krieg und Frieden oder der Zukunft der Arbeit im digitalen Zeitalter? Den Wettlauf zwischen Katastrophe und Utopie nannte der Sozialphilosoph Zygmunt Bauman die „flüssige Moderne“. Alles ist im Fluss, der alte Zustand hat sich aufgelöst, der neue ist noch nicht formiert. Solche Zustände sind nicht neu, aber die Wucht und das Ausmaß der Dynamik sind neu.
Literarisch anschaulich gemachte Lebensweisen haben schon sehr früh als Projektionsflächen möglicher Entwicklungen gedient und gezeigt, welche Kraft oftmals in Utopien zur gesellschaftlichen Zukunft steckt. Dies gilt auch für eine Zukunft, die es zu meiden gilt. Utopisches Denken gewinnt vor allem in Krisen- und Umbruchsituationen an Relevanz. So waren nicht zufällig die industrielle Revolution, das Kaiserreich, die Weimarer Republik, dann die 68er Jahre kreative Höhepunkte literarischer und anderer Utopien, die gesellschaftliche Lernprozesse angestoßen haben.
Ob Klima, Umwelt, Frieden, Demokratie, Arbeit, Geschlecht oder das Menschsein an sich – der Stoff für Utopien ist heute reichhaltiger denn je. Er ist auch empirischer, überprüfbarer, letztlich nicht selten näher an Science als an Fiction. Science Fiction als Genre hat seit jeher als populäre Vermittlungsform wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer pfadabhängigen oder auch disruptiven Überzeichnungen gedient. Ihre Urheber:innen haben nicht selten einen wissenschaftlichen Hintergrund und nutzen das Format, um einerseits den engen Grenzen der innerdisziplinären Kontrolle zu entfliehen und andererseits das „Big Picture“ zu zeichnen, das es braucht, um der Forschung ihre gesellschaftliche Bedeutung zu zeigen. Je unübersichtlicher der Komplexitätsgrad aus Krisendynamiken auf der einen Seite und Wissenstiefen auf der anderen Seite wird, desto bedeutender können Utopien werden.
Für Robert Jungk, den Schöpfer der „Zukunftswerkstätten“, waren sie der „Antrieb für soziale Erfindungen in einer wünschenswerten Zukunft. Nur positive Fantasien verhindern, dass wir Menschen angesichts der gesellschaftlichen Krisen in Passivität und Resignation versinken. Sie zeigen uns Wege auf, wie wir diese Welt positiv verändern können, und motivieren uns, diesen Weg selbst mit anderen voranzugehen.“
Science-Fiction-Romane von Carl Amery, Isaac Asimov, Edward Bellamy, Theodor Hertzka, Theodor Herzl, Aldous Huxley, Kurd Laßwitz, Ursula Le Guin, Thomas Morus, George Orwell, Marge Piercy, Christine de Pizan, P. M., Kim Stanley Robinson, Bertha von Suttner, H. G. Wells u. v. a. haben wissenschaftliche Erkenntnisse literarisch popularisiert und politisch-gesellschaftliche Bewegungen angeregt.
Eine Debatte, die mögliche Zukünfte in den Blick nimmt, kann von der erzählerischen Kraft utopischer Zukunftsentwürfe gerade heute wichtige Anregungen beziehen: ob im Klimakontext, wo unsere Macht der Gewohnheit zur Disposition steht, oder beim Blick auf die Zukunft der Arbeit, bei dem wir unser Verhältnis zur Maschine einmal mehr bestimmen müssen, was wiederum weitreichende Folgen darauf hat, was wir als Bildung begreifen usw.
Auch Bildungssysteme müssen relevante Handlungsfelder und Inhalte definieren, die Selbstwirksamkeit der Lernenden durch innovative Methoden der politischen Bildung erreichen und in ihren Bildungsinstitutionen die Prinzipien der Nachhaltigkeit integrieren. Für eine wirksame Bildung zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele1 ist eine Weiterentwicklung zur transformativen Bildung2 notwendig. Nur die Kooperation von zivilgesellschaftlichen informellen und non-formalen Lernorten mit den formalen Bildungseinrichtungen kann dies leisten.
Die Veranstaltungsreihe „Kongress der Utopien“ will das gesellschaftliche Lernpotenzial von Utopien offenlegen, zugänglich machen und kartieren. Zwei Fragen sind dabei leitend:
(1) Welche Zusammenhänge zwischen Utopien und realen gesellschaftlichen Entwicklungen lassen sich anhand der literarischen Utopien vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts nachzeichnen und was ist dafür heute noch relevant?
(2) Welche Utopien gibt es heute, was ist ihre wissenschaftliche Grundlage und welches Potenzial zur Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklung steckt in ihnen?
Das Ziel des „Kongress der Utopien“ ist mehr als nur eine Bestandsaufnahme von Utopien. Er will die relevanten Bestände des utopischen Denkens wie auch der auf Zukunftsvisionen ausgerichteten Science Fiction analysieren und er erprobt selbst in einem innovativen Setting aus lokalen und hybriden Veranstaltungen Modelle und Konzepte für eine transformative Bildung und Kulturarbeit für progressive gesellschaftliche Lernprozesse.